Interview mit Felix Claus

Erscheinungsdatum
12/2009
Verlag
Standpunkte, Basel
Herausgeber
Reto Geiser, Tilo Richter
Autor(en)
Axel Simon, Zürich (Idee, Konzept) Barbara Wiskemann und Robert Haussmann, Elli Mosayebi und Flora Ruchat-Roncati, Benedict Boucsein / Axel Humpert und Felix Claus, Susanne Kuhlbrodt und Hans Kollhoff, Alois Diethelm und Ruggero Tropeano, Maria Conen und Ernst Gisel (Interviews)
Grafisches Design
Cybu Richli/Fabienne Burri
Seiten
88
Format
23 cm x 15 cm
Druck
Broschiert, s/w

Manche Bürgersteige sind nur halb gedeckt, einige Strassen enden im Nichts. Doch die Form von IJburg, einer künstlichen Insel im Osten Amsterdams, ist bereits deutlich erkennbar. Hier entsteht eine Art suburbanes Manhattan, das von einer erstaunlich städtischen Vielfältigkeit geprägt ist. Nach Fertigstellung werden in den durch ein strenges Raster organisierten Baublöcken 21.900 Menschen leben. Zusammen mit Frits van Dongen und Ton Schaap ist Felix Claus für den entsprechenden Masterplan verantwortlich, und seit 2007 hat er sich mit dem Amsterdamer Teil seines Büros hier niedergelassen.

Das Bürogebäude von Claus en Kaan Architecten, über das wir mit Felix gesprochen haben, besetzt eine exklusive Lage im Osten der Insel. Der Bau setzt sich aus sechs aufeinander gestapelten, jeweils ca. 340 m2 grossen stützenfreien Räumen zusammen. Die Längsseite dieser Räume ist nach Norden auf die Weite des IJmeers ausgerichtet, während ihre Stirnseite auf das entstehende Stadtviertel im Westen blickt. Rückwärtig schliesst eine fensterlose, dienende Raumschicht an, in der sich Treppenhaus, Lift, Toiletten, Lager und eine kleine Fluchttreppe befinden.

Von weitem lässt die strenge Gliederung in liegende, gleichformatige Fensterrahmen den Bau als eine generische Struktur erscheinen. Bereits Eingang und Treppenhaus relativieren diesen Eindruck jedoch. Sie stehen am Anfang einer Sequenz sehr spezifischer und überraschender Räume, die uns von Anfang an fasziniert haben.

Das Bürogebäude auf IJburg erschliesst sich uns als ein konzentrierter Ausdruck der Gedanken, die der inzwischen aus über 130 realisierten Projekten bestehenden Arbeit von Claus en Kaan zugrunde liegen. Ein geeigneter Ausgangspunkt für ein Gespräch. 

B Wir wollen das Interview mit der Frage nach der städtebaulichen Situation einleiten, denn du hast ja in deinem eigenen Masterplan gebaut. Warum hast du dich dabei gerade für diese Ecklage entschieden, und warum seid ihr überhaupt nach IJburg gezogen?

Die Ecklage am zukünftigen Hafen und der Blick über das Meer hatten für uns von Anfang an offensichtliche Qualitäten. Von der innenstädtischen Geselligkeit Amsterdams Abschied zu nehmen war uns vor allem deswegen wichtig, weil dort das Denken über Projekte immer konservativer und statischer wird.

A. In einem Gespräch hat Ton Schaap uns verraten, dass er seine Wohnung auf Sporenburg verkaufen will, um nach IJburg zu ziehen. Er hat erwähnt, dass dies vor allem mit einem bestimmten Pioniergeist zu tun hat. Ist diese Haltung spezifisch für dein Umfeld?

Nein, das ist generell so. Eigentlich hat die Generation unserer Eltern damit angefangen. Raus in den Sand, ins Neubauviertel. In Holland sind mehr als 80 Prozent der Gebäude aus der Zeit nach dem Krieg. Das Gefühl, in einem Neubauviertel aufzuwachsen, ist also eigentlich ganz normal.

B Denn eigentlich sind wir hier, wenn man so will, in der Peripherie Amsterdams.

Das könnte man so sagen. Aber die zentrale Idee an dieser Inselgruppe ist, dass sie eine eigenständige Identität und Qualität hat und somit nicht vom Zentrum abhängig ist. Die meisten Leute, die uns hier besuchen, sind wirklich überrascht, weil sie eine einfache Stadterweiterung wie Amsterdam Zuid oder West erwarten. Dann aber spüren sie, dass IJburg etwas anderes ist. Dass es sich um eine Insel handelt, spielt bei diesem Gefühl natürlich eine grosse Rolle.

A Als ich das erste Mal hierher kam, stand das Gebäude noch frei, wie ein einsames Stück Stadt. Eine Lage am Wasser hätte man auch an anderen Stellen haben können – warum habt ihr euch explizit abseits von den damals bereits entwickelten Teilen IJburgs platziert?

Wir wollten mit dem ganzen biederen Wohnungsbau so wenig wie möglich zu tun haben. Daher hoffe ich auch, dass es jetzt nicht mehr lange dauert, bis die Strasse am Wasser fertig ist, denn dann kann man am Meer entlang zum Büro fahren. Die Architektur an der Hauptstrasse ist enttäuschend. Wir haben das Ganze in der Hoffnung geplant, dass die Einfachheit des Städtebaus es den Architekten ermöglichen wird, sich zu steigern, aber leider haben das nur die wenigsten geschafft.

A Wenn man dein Gebäude sieht, spürt man, was du damit meinst. Wir haben den Eindruck, dass es seinen Charakter stark aus seinem Umfeld bezieht, also aus der Natur und aus dem städtebaulichen Plan. Wie steinig war der Entwurfsprozess für dich?

Eigentlich war der Entwurf ein schrecklicher Prozess. Wir haben anderthalb Jahre daran gearbeitet und viele Lösungen verworfen. Erst ganz am Ende hat uns ein Auftraggeber – ein als Architekt ausgebildeter Entwickler – gesagt, man solle doch eigentlich nichts weiter als ein einfaches und kommerziell gut vermietbares Gebäude planen. Nach diesem Gespräch hatten wir endlich einen Fokus. Normalerweise wissen wir von Anfang an ganz intuitiv, dass es sich nicht um eine kulturelle Aufgabe handelt, sondern darum, die Sache so einfach wie möglich zu gestalten. Hier hat es viel länger gedauert, das herauszufinden. Wir hatten natürlich gedacht: Endlich mal frei! Jetzt aber besteht der Bau eigentlich nur aus einem vermietbaren Raum pro Etage und einer effizient organisierten dienenden Schicht im Rücken – fertig.

A Dabei macht das Projekt den Eindruck, als ob es eine ganz klare Konzeptskizze gegeben hat.

Die gab es natürlich auch. Sobald wir wussten, wohin die Reise gehen soll, war alles ganz einfach. Und mit dem Thema des einfachen Bauens haben wir schon oft gearbeitet. Es hat einen unheimlichen Charme, keine Architektur, sondern ein Gebäude und damit Stadt zu machen. Denn die Stadt braucht ja auch einfache Gebäude, sie kann nicht nur aus Architektur bestehen. In Orten wie Manhattan kann man toll leben, obwohl die Architektur hier gar keine wichtige Zutat ist.

A Von der Universität kommend hat man oft die Vorstellung, dass man ein Architekt wird und Architektur macht. Dann kommt man in eine Stadt wie Tokio und stellt fest, dass die wenigsten Bauten von Architekten gemacht worden sind, die Qualität der Stadt darunter aber nicht leidet. Diese Erkenntnis ist ziemlich deprimierend …

B … oder befreiend.

Das hat zwei Seiten. Denn eigentlich können sich Architekten nur behaupten, wenn sie etwas unglaublich idiotisches machen. Dann nennen sie das Kultur, aber eigentlich ist es genau wie in der Kunstwelt, man redet sich gegenseitig hoch. Natürlich ist Architektur ab und zu auch wichtig, für öffentliche Bauten oder wenn es um ein Gebäude geht, das etwas ausdrücken muss. Aber das ist eben nicht immer der Fall. Und das ist auch das Schöne am Wohnungsbau. Hier kann man sich auf das Handwerkliche des Architekten konzentrieren und muss sich nicht um das kümmern, was die Schweizer immer so interessiert, nämlich wie man zwei Hölzchen aneinander macht. Nein, es geht um Raum.

B Im Grunde hat euch am Anfang also der fehlende Zwang behindert.

Ja. Also nie wieder etwas für sich selbst entwerfen.

A Kommt da nicht auch noch die konstante Befürchtung hinzu, irgendwann seine eigenen Fehler nicht mehr ertragen zu können?

Das Gute an dem Konzept ist ja, dass es versucht, generisch zu sein. Es ist eben einfach Raum und keine Architektur. Erst letzte Woche ist mir bei einem Vortrag klar geworden, was so gut daran ist, nämlich dass das Gebäude keine Konstruktion hat. Es ist einfach Raum. Seit Le Corbusier ist man immer mit Konstruktion beschäftigt. Der plan libre macht ja nur Sinn, wenn man Stützen hat. Ohne Stützen gibt es keinen plan libre.

A Auf der anderen Seite scheint es mir aber auch, dass es sich aussen nicht so verhält. Dort ist die Elementlogik klar und präzise ablesbar. Ihr hättet den Bau auch einfach in Ortbeton giessen können, ohne dass sich die Konstruktion abzeichnet.

Ortbeton wäre in unserer Baukultur undenkbar gewesen. Die Präfabrikation der Fassade ist sehr wichtig, sie gehört zum Konzept, denn in Holland misslingt alles, was am Bauplatz selbst geschehen muss. Es gibt kein Handwerk mehr, selbst wenn Geld und Zeit kein Problem sind. Es geht sogar dann schief, wenn man die besten Bauunternehmer hat und diese sich der Tatsache bewusst sind, dass sie für einen der meistbauenden holländischen Architekten persönlich arbeiten.

A Wenn man in Holland gut bauen will, geht das also nur mit Präfabrikation.

Ja, in einer Fabrik kann man noch Präzision erlangen. Dort ist man durch den Fabrikationsprozess dazu gezwungen, vorauszudenken. Am Bauplatz hingegen wird bereits mit einkalkuliert, dass zwanzig Prozent umgebaut oder wieder entfernt werden müssen, gerade bei Ortbeton. Aus diesem Umstand heraus ist übrigens ein ganz eigenes Handwerk in Holland entstanden. Es gibt neuerdings sehr viele Betriebe, die sich auf  Betonbohrungen spezialisiert haben. Die Bauindustrie ist also Lichtjahre von unserer Gesellschaft entfernt, die auf just in time management ausgerichtet ist. Und inzwischen gibt es grosse Auftraggeber, die sich mit dieser unglaublichen Verschwendung nicht mehr abfinden und sagen, dass sich das ganze Baugewerbe ändern muss.

A Im Hinblick auf das holländische Baugewerbe leuchtet mir die Entscheidung ein, mit präfabrizierten Betonelementen zu arbeiten. Die Elementlogik verleiht dem Gebäude aber auch einen starken und durchaus kalkulierten Ausdruck. In der Zeitschrift „Bauen in Beton“ beispielsweise wurde eine leichte, der tragenden Fassade widersprechende Wirkung beschrieben. Haben derartige Überlegungen wirklich eine Rolle gespielt?

Für mich ist der Beton zuerst einmal als Aussage zur gegenwärtigen Baupraxis interessant. Denn eigentlich wird in Holland meistens mit präfabrizierten Betonelementen gearbeitet, aber es wird nicht gezeigt. Wenn man hier unterwegs ist, sieht man immer dieses schöne Betonkasko, und eine Woche danach ist alles verkleidet. Schon lange habe ich daher die Idee gehegt, zu zeigen, dass der Beton als Lieferant von Ästhetik gut genug ist. Ausserdem meine ich, dass in unserem Land, wo wir keinen eigenen Naturstein haben, Beton eine Solidität erzielen kann, die man mit Natursteinverkleidung nicht erreicht. Auch mit Beton kann man die Schwere und Solidität eines Palazzo Strozzi erzeugen.

Als Martin Tschanz für seinen Beitrag bei mir war, war er auf Fugen, Ecken und Details fixiert. Es ist typisch für die Schweizer Betrachtungsweise, gleich in die Details zu gehen, aber darum ging es überhaupt nicht. Die negative Ecke, die Martin Tschanz beispielsweise erwähnt, haben wir entgegen seiner Interpretation aus dem Gedanken heraus entwickelt, das Gebäude zu einem einzigen Teil zu machen. Ein durchgehendes Eckelement wäre jedoch viel zu gross geworden, um es zu transportieren. Daher haben wir uns für die naheliegendste Lösung entschieden. Eine besondere Bedeutung hat dieses Detail jedoch nicht.

A Wie funktioniert der Bau konstruktiv?

Die Fassade ist innengedämmt und trägt, da keine Wärmebrücke entstehen darf. Es war daher sehr schwierig, die Stabilität zu sichern. Als Decken sind einfache Fertigteile zwischen dem rückwärtigen Kern und der Fassade aufgelegt.

B Neben dem konstruktiven Aspekt haben ja sicher auch Referenzen und Analogien eine Rolle gespielt. Insbesondere ist uns die Verwandtschaft zu den anonymen Bürobauten Tokios aufgefallen.

Ja klar, ich könnte tausende Bilder zeigen. In Ginza gibt es viele sieben- oder achtstöckige  Gebäude aus den späten 60er Jahren mit präfabrizierten curtainwall-Fassaden. Vor 25 Jahren war das für mich ein Augenöffner. Das sind einfach Gebäude, und von da kommt auch die Inspiration für den Masterplan von IJburg. Denn wenn man hier aus dem Fenster schaut, sieht man keinen Entwurf, sondern einfach Stadt. Das finde ich ganz toll.

B Interessant am Vergleich mit Ginza ist auch der unauffällige zurückgesetzte Eingangsschlitz in das Gebäude.

Der Bau war zu Beginn immer nur für uns gedacht, und deswegen wollten wir ja auch diesen unsichtbaren Eingang. Der ist einerseits unsichtbar, andererseits auch wieder nicht, denn wenn die Strasse fertig ist, wird dieser Schlitz ziemlich dramatisch wirken.

A Über den Eingang haben wir uns besonders gewundert, weil wir wissen, dass dir Eingang und Bezug zur Strasse nicht ganz unwichtig sind. Daher hat uns überrascht, dass du diesen Schritt zurück machst, und dass der Eingang fast mauselochartig und ohne Vordach ausgeführt ist. Man wartet eigentlich im Regen.

Ja, stimmt, wir waren ganz verliebt in diese Rasterfassade und wussten nicht, wie wir den Eingang legen sollten. Das Ganze hat damit angefangen, dass wir es städtebaulich besser fanden, den Eingang an der Seite zu haben.

B Diese städtebauliche Entscheidung über die Lage erklärt aber nicht die Schlichtheit des eigentlichen Eingangs.

Schlicht? Der Schlitz als solcher ist doch bereits ein sehr starkes Bild. Da fällt mir ein, dass wir hier vielleicht noch etwas hinhängen sollten …

A Mir gefällt die Ambivalenz an dieser Stelle. Auf der einen Seite ist da die grosse Geste des Schlitzes, auf der anderen Seite die schlichte Ausformulierung der Tür und des dahinter liegenden Treppenhauses. Was war der Grund dafür?

Es geht vor allem um den Kontrast. Man kommt durch das Mauseloch und tritt dann oben an diese grosse Öffnung. Viele Besucher sind davon ziemlich beeindruckt. Aber nicht immer. Letzte Woche war ein Auftraggeber aus der Immobilienbranche bei uns, der gesagt hat: Das Gebäude ist natürlich scheusslich, darüber sind wir uns alle einig, aber der Eingang ist wirklich schrecklich. Und das war ernst gemeint.

A Beim Studium der Pläne war ich überrascht festzustellen, dass das Gebäude 25 Meter hoch ist, in der Schweiz baut man ab dieser Höhe ein Hochhaus. Durch die enorme Proportion der Fixverglasungen, das Fehlen von Öffnungsflügeln und der nicht in Erscheinung tretenden Eingangstür ist es jedoch sehr schwer, die eigentliche Grösse zu begreifen. Was ist der Grund für diese Abstraktion?

Wir hatten die Absicht, etwas ganz normales und effizientes zu machen, ein Vorzeigeprojekt, das Leute wie diesen Immobilienburschen zum Denken bringt. Die sagen dann vielleicht, mein Gott ist das hässlich – aber es wird die Art und Weise, wie sie über Gebäude denken, ändern.

Es steckt aber auch die Absicht dahinter zu zeigen, wie lächerlich, bieder und unnachhaltig die ganze Entwicklungspraxis ist. Es wird nie wirklich Raum verkauft, sondern nur images. Aus diesem Grund haben wir versucht, die Räume wirklich grosszügig zu gestalten und die Fenster übergross zu machen. Das gilt auch für das Treppenhaus. Derartige Treppenhäuser gibt es in Holland sonst wohl nur in mittelalterlichen Palästen, und es war eine riesige Freude, das hier versuchen zu können. Etwas ganz Einfaches versteht jeder, aber wenn es aus der gewohnten Proportion fällt, hat es etwas Verfremdetes und bringt die Leute zum Denken. Ob man es schön findet oder nicht – alle verstehen, dass vier Meter lichte Raumhöhe eine Qualität haben.

A Vom Ausdruck her ist es ein ganz karges Treppenhaus ohne aussergewöhnliche Elemente, fast wie ein hochskaliertes Fluchttreppenhaus. Auf mich hatte dies den Effekt, dass ich mir selbst mit 1,93 klein vorkam. Könnt ihr solche Wirkungen immer steuern?

Du bist der erste, der das sagt. Ich finde es wohltuend und komfortabel. Das Geländer ist eines der billigsten, das wir je gemacht haben, aber ich finde die Nobilität des Materials ganz überzeugend. Das einzig schlechte ist die Akustik. Übrigens war es auch ein Experiment, ob man mit so wenig Licht auskommt. Das Treppenhaus hat ja nur ein einziges Oberlicht.

A Wirkungen sind also nicht immer kalkulierbar.

Nein, eigentlich kann man eine Wirkung als Architekt nie kontrollieren. Man versucht natürlich immer das Bestmöglichste. Aber erst am Bauplatz spürt man wirklich, ob etwas gelingt oder nicht.

A Du arbeitest viel mit Referenzen und hast auf deinen Reisen unglaublich viele Projekte besichtigt, die wir nur aus Büchern kennen. Vor einem solchen Hintergrund kann man dann die Wirkung doch auch ein wenig abschätzen, oder nicht?

Natürlich. Das klingt vielleicht komisch, aber die Architekturfakultät von Artigas in Sao Paolo war für dieses Gebäude eine tolle Referenz, und zwar wegen der Aussage des Materials. Raum und Material. Super.

A Wir haben gerade über die Massstäblichkeiten gesprochen, die man mit der Eingangssequenz durchschreitet. Man geht also in das Gebäude hinein, Treppe und Lift sind riesig… 

Unser Berater hat gesagt, macht zwei Aufzüge. Das hat einen besseren Wiederverkaufswert. Aber der Aufzug sollte ein richtiger Raum sein.

B War das auch der Grund für die riesigen Türen, die vom Treppenhaus in die Büroräume führen?

Ja, sie passen zum Treppenhaus. Doch im Gegensatz zu den Toilettentüren sind sie noch nicht gut, denn sie sind etwas unpraktisch, ganz schwer und unkomfortabel. Eigentlich ist es das Handwerk des Architekten, die Stellen, wo der Körper auf den Raum trifft, zu kontrollieren. Daher ist es auch wichtig festzustellen, dass diese Tür nicht gut ist. Darüber nachzudenken, ist interessant, das macht man dann beim nächsten Projekt wieder anders, man versucht etwas anderes.

Mir wird bezüglich des Eingangs jetzt übrigens bewusst, dass es diese städtebaulich eigentlich falsche Lösung deswegen gibt, weil das Gebäude im Grunde „ein Gebäude“ sein muss. Wir haben vorhin über Ginza gesprochen, da ist ein Gebäude ein Kasten. Aber in diesen Kasten kann man nicht rein.

B Und deswegen hast du den Eingang in die Schattenfuge gesetzt. 

Ja, um die Perfektion zu erreichen. Eigentlich ist das aber auch ein Zeichen, dass etwas nicht gelungen ist, dass man die Aufgabe nicht hundertprozentig gelöst hat. Es ist ein Ausweg. Dieser Weg hat vor allem aber mit dem modernistischen Gedanken zu tun, dass man ein Prisma ganz schwer durchbohren kann. Le Corbusier hat aus diesem Grund die Pilotis benutzt. Im Gegensatz zum mittigen Eingang bei der klassischen Architektur hebt man in der modernistischen Architektur das Gebäude entweder an oder man geht an der Seite hinein. Das ist alles sehr durchsichtig, oder?

A Du hast vorhin erklärt, dass es dir um den Kontrast zwischen dem Mauseloch im Erdgeschoss und dem Ausblick am Empfang ging. Spielt dieser Ausblick wirklich eine so grosse Rolle bei dem Haus, oder könnte es eigentlich auch woanders stehen?

Natürlich, aber von seinem Massstab her könnte das Haus nicht mitten in der Stadt stehen. Das würde man auch verstehen, wenn man nur das Gebäude mit seiner Fassade kennen würde. Es ist genau wie bei einer Brille: Wenn man sie vor sich liegen sieht, versteht man, dass sie dafür da ist, um durchzuschauen.

B War Edward Hoppers Office in a Small City eine Referenz für dich?

Ja, das haben wir benutzt.

A Neben einer bestimmten Melancholie scheint mir ein Grundthema von Hoppers Bildern zu sein, die Präsenz der Stadt zu zeigen, ohne diese direkt abzubilden.

Das ist es auch. Letzte Woche musste ich einen Kommentar zu Columba abgeben. Peter Zumthor ist immer noch ein Mensch vom Lande, auch wenn er in der Stadt arbeitet. Columba ist an dieser Strassenecke in Köln eigentlich total fehl am Platz, weil es nicht städtisch ist. Natürlich ist es wunderbare Architektur, wirklich wunderbar, alles wurde gut gemacht, aber das Gebäude benutzt die Stadt nicht. Hingegen denke ich, dass dieses Gebäude hier eine städtische Aussage ist. Es könnte nicht irgendwo in der Landschaft stehen. Die städtische Aussage wird beispielsweise durch die Multiplizierung erzeugt. Man könnte das Gebäude auch um 90 Grad drehen. Es ist eine Abstraktion.

Übrigens hat auch Hoppers Melancholie mit dem Leben in der Stadt zu tun. Auf dem Land wird man geisteskrank, aber nicht melancholisch.

B Aber der Bau ist eben nicht vollkommen neutral, denn das gibt es ja nicht.

Nein. Auf der Welt haben wir eine dichte Insel gemacht, und auf einer Ecke dieser Insel steht das Gebäude – und in seiner Struktur gehört es zur Stadt.

B Es ist eigentlich ein Übergang.

Ja, eine Ecke, eine scharfe Grenze.

A Kommen wir wieder zurück auf den Innenraum. Wie haben sich für dich die Raumhöhen ergeben?

Ganz einfach: Vom Städtebau her beträgt die maximale Höhe 25 Meter. Bei fünf Stockwerken à fünf Meter wären die Geschosse zu hoch, bei sieben Stockwerken wären sie zu niedrig, also haben wir sechs Geschosse gemacht. Durch die Aufteilung der Fassade bedingt musste das obere Geschoss dann niedriger werden. Das war auch legitim, denn das Geschoss hat eine andere Funktion. Und wenn man so eine Fassade macht, ist es unvermeidlich, das irgendwo im Schnitt zu kompensieren.

A Die Innenräume sind farblich extrem zurückgenommen. Was war der Grund dafür?

Wir haben zuerst überlegt, alles weiss zu machen. Das erschien uns aber als etwas zu stark und zu konzeptuell. Die nahe liegende Alternative war, alles betongrau zu machen. Das haben wir dann natürlich ins Extrem geführt und von der Steckdose bis hin zum Thermostatschalter alles im selben Farbton lackieren lassen – jetzt muss man sich immer fragen, ob man für warm nach rechts oder nach links drehen muss…

A Ihr habt also nicht lange über die Entscheidung nachgedacht, diese dann aber mit grosser Konsequenz durchgezogen?

Ja, denn das ist ein unglaublich wichtiger Effekt. Es geht darum, wie man die Kontrolle bekommen und behalten kann. Ohne Kontrolle kann man den Beruf nicht ausüben, es geht ja darum, dass man den Raum kontrolliert.

A Das Gebäude hat etwas spartanisch-klösterliches, und ihr habt in eurem Büro einen klar strukturierten Arbeitsablauf. Der Innenraum passt da gut ins Bild.

Der Innenraum ist effizient aber auch sehr grosszügig. Ich habe unbedingt mal ein Gebäude ohne Fensterrahmen machen wollen, was aber bedeutet, dass man die Fenster nicht öffnen kann. Unser Klimaingenieur hat mir gesagt, ich sei verrückt. An diesem Ort müsse man eins mit der Natur sein und die Vögel und das Wasser hören. Ich habe ihm Recht gegeben und auch durchaus befürchtet, dass das Gebäude in diesem Sinn nicht gut funktioniert. Doch durch die Raumhöhe und das dadurch bedingte Luftvolumen ist es eigentlich für niemand ein Bedürfnis, ein Fenster zu öffnen. Wir sind jetzt fast zwei Jahre hier drin, und ich habe dieses Bedürfnis noch nie verspürt. Zu Hause habe ich das schon, da sind Türen und Fenster immer geöffnet.

A Die Landschaft zu sehen, aber nicht zu hören, macht die Abstraktion perfekt.

Genau, und da hilft natürlich auch der zurückhaltende Umgang mit der Farbe. Es gibt keine Ablenkung, man kann sich konzentrieren. Übrigens haben wir lange Zeit versucht, diese militärische Effizienz im Erdgeschoss durch Qualität zu kompensieren. Wir wollten ein Restaurant unten ansiedeln, aber noch kann man hier keine Wirtschaft betreiben. Ich hoffe, dass sich das ändert, wenn die Insel fertig ist. Es ist fast, als ob das Gebäude eine städtische Kultur suggerieren würde, die es noch nicht gibt.

A Hat die Referenz an Lofts und Speicher auch eine Rolle gespielt?

Ja, das gehört dazu. Schon seit langer Zeit sind dies wichtige Referenzen für uns, denn ein Gebäude muss nicht schön sein. Die Architektur ist zu sehr mit Schönheit beschäftigt. Aber auch ganz hässliche Leute können einen guten Charakter haben oder nett sein, und das ist mit Architektur genauso. Dieses Gebäude beweist das. Viele Auftraggeber, die hier herkommen, sagen: Ich traue mich eigentlich nicht, dass zu sagen, aber das Gebäude ist hässlich. Von innen jedoch verstehe ich es.

B Die Message kommt rüber.

Ja. Wenn ich jetzt drin bin, verstehe ich, weshalb das nichts ausmacht. Und es gibt natürlich auch diejenigen, die es wunderschön finden. Aber die sind in der Minderheit.

A Aber du findest es doch sicher auch schön.

Ich schaue Gebäude schon längst nicht mehr so an, schön oder nicht schön.

B Du hast dir auch ein kleines Einfamilienhaus in Tokyo gebaut. Wie war es da?

Es ging ganz einfach, weil es meine eigene Sache war. Beim Büro hingegen hatte es mit dem Umfeld zu tun – es war mein Städtebauplan, meine Gemeinde, mein Milieu, mein Habitat, meine Auftraggeber, mein Geld, meine Zukunft, mein Personal… Hier hat die Verantwortung sehr schwer gelastet.

B Es ist ein  repräsentatives Gebäude.

Natürlich, es repräsentiert eine Denkweise und eine Praxis. Wir haben eine ganz starke Reputation, und die hätten wir leicht verfehlen können, wenn wir zum Beispiel so eine gay villa gemacht hätten, fully over the top, mit Pelzen und Leder und so weiter. Aber letztendlich hat dieses Gebäude unsere Reputation nur gestärkt.

A Du hast vorhin von Kontrolle gesprochen. Habt ihr den Entwurf in seinem Ausdruck derart stark reduziert, um die Architektur einfacher kontrollieren zu können?

Ich denke, dass das sehr wesentlich ist. Ich habe bei einem Architekten gearbeitet, wo ich gesehen habe, wie dramatisch es ist, wenn man sehr viele Ideen hat und diese einem dann zwischen den Händen zerrinnen. Es ist also besser, sich auf das zu konzentrieren, was wesentlich erscheint, um es dann hundertprozentig durchzusetzen. Deswegen suche ich immer wieder diese Einfachheit. Ich möchte mich vor solchen Enttäuschungen schützen.

B Wahrscheinlich gibt es aber auch einen Punkt, wo man die Kontrolle loslassen muss.

Ich bin kein Kontrollfreak, ich gehe nie auf den Bau. Wir hatten mal eine schweizerische Mitarbeiterin, die kam von Diener & Diener und hat eines unserer ersten Projekte bis auf zwei Millimeter genau geplant. Im Bau ging dann natürlich alles daneben. Da haben wir gemerkt, dass diese Konzentration auf die Ausführung fatal ist und keinen Sinn macht. Und es geht auch um ein Kosten-Nutzen-Verhältnis: Ich gehe lieber um sechs nach Hause oder ins Restaurant und habe das Gefühl, dass ich das Meiste herausgeholt habe. Viele Kollegen aber hören nie auf.

B Also ist Architektur auch die Kunst, aufhören zu können und die Dinge klug so anzustossen, dass sie dann von alleine laufen. Man setzt eine Art Maschine oder Mechanismus in Gang und muss dann eigentlich nicht mehr auf die Baustelle gehen.

Ja. Das Problem ist eingegrenzt, es gibt keine Überraschungen.

B Die Handwerker können nichts falsch machen.

Und man kann dann mit ihnen ein Bier trinken gehen, weil man weiss, dass es keine Enttäuschung geben wird. Denn das ist das Schlimmste, was es gibt, wenn man – aufs Menschliche übertragen – von seiner Frau erwartet, dass sie Miss Universe ist, oder dass man von seinen Kindern erwartet, dass sie Arzt werden. Das ist alles unnötig, wenn man seine Ziele realistisch setzt.

B Gab es von eurem Büro aus einen Bauleiter?

Das gibt es nicht in Holland. Wir haben die künstlerische Bauleitung gemacht. Da geht es um Farben oder Muster und meistens darum, dass bestimmte Sachen nicht geliefert werden können…

A Das bedeutet, dass du das Projekt nur während der Planung siehst, und wenn es fertig ist. Interessiert dich der Bauprozess?

Nein.

B Bist du bei deinen ersten Projekten auf die Baustelle gegangen?

Das schon, aber nicht um einzugreifen, sondern aus Neugier. Ich wollte testen, ob die Vorstellung gestimmt hat.

B Du hättest also genauso gut hingehen können, wenn du fertig bist.

Ja, aber dann wird man vielleicht unangenehm überrascht, wenn die Mutter oder der Auftraggeber dabei ist.

A Bei den BHSF Werkstattgesprächen hast du über den Architekt Jacob van Campen gesprochen und gesagt, dass dich die vielseitige Arbeit dieses Universalgenies fasziniert. Kann man eigentlich sagen, dass das dein Ideal ist?

Nein, ich bin voll zufrieden, denn ich mache leidenschaftlich gerne Gebäude. Der ganze Prozess macht mir Spass – Städtebau, Beratung, und auch die gesellschaftliche Verantwortung, also Gremien, Unterricht und so weiter. Es geht ja nicht nur um das Schaffen, sondern auch um Wirtschaft, Politik und Kultur. Das ist Gesellschaft. Sonst ist man auf dem Bauernhof.

A Man hat den Eindruck, dass sich im Gegensatz dazu viele gute Architekten isolieren.

Die werden auch bewusst vom setting provoziert, um ihre Identität aufzublasen oder zu vergrössern.

B „Schule der Schulen“ hat Martin Tschanz mal die momentane Epoche der ETH genannt.

Aber ich denke, das ändert sich wieder, und diese Krise, wenn sie jetzt voll einschlägt – hoffen wir’s – wird den ganzen Beruf ändern. Die Jugend, die jetzt bei den verschiedenen Professoren shoppen geht, die muss sich anpassen. Seit ihrer Geburt hat sie nur ein Bild von immer mehr Wachstum mitbekommen. Das ist vielleicht aus deutscher Perspektive schon längst nicht mehr so, aber hier ist man in dieser Hinsicht doch ziemlich naiv.

A Eine ganz einfache Frage zum Abschluss: Was würdest du uns als jungen Architekten raten?

Freude daran zu haben. Ich habe nur durchgehalten, weil wir immer Freude an der Arbeit hatten. Und das gilt nicht nur für die eigentliche Projektarbeit, Architektur hat so viele Seiten. Das sehe ich bei euch auch, einer ist Unternehmer, der andere Wissenschaftler. Das war bei Kees und mir auch so.