"Bauhelm und Wolkenkuckucksheim"

Erscheinungsdatum
2/2012
Zeitschrift
trans no. 20
Autor(en)
Benedikt Boucsein, Axel Humpert, Tim Seidel
Seiten
8

Oft sind Architekturpraxis und -theorie von einem vermeintlich idealistischen Tunnelblick geprägt. Wesentliche Aufgabenbereiche werden so ignoriert, die Architekten isolieren sich letztlich selbst. Die Haltung der konkreten Utopie kann dem entgegenwirken und den Blick für neue Aufgaben öffnen, ohne wichtige Grundwerte der Disziplin zu vernachlässigen.

 

Langwierige und schweisstreibende Grundrissstudien und Produktrecherchen werden ad absurdum geführt, wenn die Bauherrschaft in der Zwischenzeit die komplette Küche auf einer Messe gekauft hat. Plötzlich sieht man sich dazu gezwungen Dinge einzuarbeiten, die zu integrieren kaum vorstellbar sind. „Mir ist es ja egal, wie die Küche aussieht, aber mein Mann hatte da ganz genaue Vorstellungen.“ So oder so ähnlich kann eine Woche intensiver Arbeit zu Staub zerfallen.

 

Wie reagiert man in einer solchen Situation? Der Star kann das Modell zertrümmern und seine Bauherren zum Teufel jagen. Der Unternehmensgründer, der sein Büro gerade so über Wasser hält, ganz gewiss nicht. Also versucht er sein Möglichstes, kämpft zäh weiter, handelt einen Kompromiss aus und lässt den Frust über das Geschehene beim Feierabendbier ab. Dort kann er sich mit ähnlichen Geschichten seiner Kollegen und mit der Gewissheit, dass schon Generationen vor ihm an ihren Bauherren verzweifelten, trösten. Als letztes aber würde ihm einfallen, im „Nicht-Ort“[1] der Utopie[2] Trost zu suchen. Denn dieser ist ja gerade wieder einmal gründlich zerschlagen worden.

 

Das Utopische als Antrieb in der Architektur

 

Trotzdem schwingt die Utopie bei denjenigen, die über ihre Bautätigkeit nachdenken, immer wieder mit. Gäbe es die Utopie als Antrieb nicht, dann würde man sich als Architekt in einem solchen Fall gar nicht erst aufregen, sondern den Entwurf widerspruchslos anpassen. Wer sich die Mühe macht, nicht einfach das zu bauen, was dem Bauherren oder dessen Berater gerade in den Sinn kommt, sieht eine gewisse Relevanz in seinen Bemühungen. Er oder sie arbeitet auf etwas Besseres, auf etwas Höheres und damit auch Utopisches hin, auch wenn sich die konkreten Vorstellungen stark unterscheiden können.

 

Seit die klassische Moderne mit ihren Ansprüchen und Methoden weit übers Ziel hinaus oder vielmehr daran vorbeigeschossen ist, scheint die Utopie überholt zu sein. Daher meinen viele Architekten, pragmatisch und unideologisch in einem utopiefreien Raum zu arbeiten. Der Schein trügt jedoch. Auch in der Zeit nach der Moderne trifft man auf entsprechende Spuren. Wie Martin Reinhold in Utopia’s Ghost zeigt,[3] war die Utopie in der Postmoderne nur scheinbar verabschiedet worden. Die grosse, vereinheitlichende Utopie hatte sich lediglich in viele kleinere aufgeteilt. Verspieltheit ersetzte Melancholie, anstatt einer kollektiven Zukunft wurde nun auf eine Reihe von jeweils privaten Zukünften zugearbeitet. An der grundsätzlichen Bedeutung des Utopischen aber hat sich auch in dieser Zeit nicht viel geändert.

 

Zu Recht also fordert Martin Reinhold die Architekten dazu auf, sich mit der Utopie zu beschäftigen. Wenn sie in der Architekturproduktion und -reflektion tatsächlich ein unausweichlicher Antrieb ist, sollte der Auseinandersetzung mit der Utopie nicht aus dem Weg gegangen werden: Es scheint besser, die Utopie an die Oberfläche zu bringen, anstatt sie zu ignorieren und ihren Einfluss damit unberechenbar zu machen. Vielleicht wird es dann sogar möglich, bestimmte Hindernisse des Architektenalltags positiv zu konnotieren. Auch verspricht die offene Auseinandersetzung mit dem eigenen utopischen Denken, anderen seine Motivation besser erklären zu können, und nicht geschmäcklerisch und subjektiv zu wirken. Und schliesslich könnte die Utopie auch dazu genutzt werden, die eigene Position kritisch zu überprüfen.

 

 

Warum utopisch denken?

 

Gerade heute scheint wieder zu gelten, dass die Welt „für alles andere als Utopia viel zu gefährlich geworden“ ist.[4] Denn „zu einem Zeitpunkt, wo ein Ausweg aus der Sackgasse namens Globalisierung – und aus deren Krisen, die von transnationalen Konzernen, Imperien bildenden Nationen und wohlmeinenden NGOs gemanagt werden – zunehmend unwahrscheinlicher wird, kann es in der Tat keine dringlichere Aufgabe geben, als zu lernen, wieder mit Utopien zu leben und in Utopien zu denken. Mit anderen Worten: Erneut denken zu lernen, dass ‚eine andere Welt möglich ist‘ (…).“[5] Die heutigen globalen Herausforderungen haben unmittelbar mit der gebauten Umgebung zu tun. Die Städte sind die Grundlage der Wirtschaftssysteme der Industrienationen und sorgen für einen immensen Ressourcenverbrauch. Sie werden zudem in ähnlich ungünstiger Form in Ländern wie China und Indien massenhaft repliziert. Währenddessen macht sich in den Nationen der „Bottom Billion“[6] eine Art reale Dystopie breit, deren demographische Explosivität bald auch bei uns spürbar sein wird. Ohne das utopische Ziel einer grundsätzlichen Änderung könnten wir früher oder später vor sehr schmerzhaften oder sogar existenzbedrohenden Anpassungen stehen.

 

Auch im kleineren Massstab ist die Utopie für die Architektur durchaus relevant. Gesellschaft und Wirtschaft sind von Arbeitsteilung und Konzentration in einzelne Sphären geprägt. Zum Teil sind diese Sphären überhaupt nicht oder nur lose verbunden. Architektur und Städtebau aber können diesen „schaumartigen“ Zustand der Gesellschaft[7] nur bedingt als Arbeitsgrundlage akzeptieren, denn ihr Arbeitsfeld betrifft fast immer mehr als nur den unmittelbaren Auftraggeber. Da der utopische Gedanke sich auf einen gesamtgesellschaftlichen Zustand richtet, kann er in dieser Situation dabei helfen, das eigene Schaffen auf das Ganze zu beziehen.

 

Der dritte Grund für die Utopie liegt in der individuellen Arbeit begründet. Die Utopie kann als Richtschnur für das architektonische Schaffen dienen. Ein übergeordneter Vektor ist sehr nützlich, um zu verhindern, dass man sich im Alltagsgeschäft verliert. In der Utopie schlummert auch von daher ein grosses performatives Potenzial, sie für die eigene Arbeit nutzbar zu machen.

 

Auch von ihrer Negation her gesehen wird der Wert der Utopie deutlich. Denn wenn die Architektur keinem höheren Ziel folgt, bleibt nur noch Ökonomismus, also reines Wirtschaftlichkeitsdenken, übrig. Leider kann man diese Einstellung heute nicht nur bei Büros beobachten, die den Bedürfnissen rein am Gewinn orientierter Bauherren bedingungslos folgen. Das ausschliessliche Wirtschaftsdenken scheint sich in manchen Fällen auch aus einer ursprünglich utopischen Haltung entwickelt zu haben. Idealistische, stark konzeptionelle Ansätze erster Schriften und Arbeiten sind bei diesen Architekten offensichtlich nach und nach einer gefälligen formalistischen Wiederholung starrer Muster und einem Desinteresse am Utopischen gewichen. Ob der Erfolg die Utopie in solchen Fällen auffrisst oder nie eine Utopie vorhanden war, ist schlussendlich nebensächlich. Tatsache ist, dass eine rein ökonomisch und formal orientierte Architektur in Gefahr läuft, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht zu werden.

 

 

Spuren des Utopischen im zeitgenössischen Architekturschaffen

 

Natürlich aber enthält die Utopie auch keine Garantie dafür, dass eine Intervention positive Wirkung entfaltet. Am offensichtlichsten ist dies bei der ungeprüft optimistischen Haltung. Sie ist taub gegenüber der objektiven Abwägung von Hindernissen, überwindbaren und unüberwindbaren, und setzt ihnen ein unbedingtes und kompromissloses „Trotzdem“ entgegen. Alternativen zum eigenen Standpunkt werden nicht objektiv überprüft. Funktioniert ein Ansatz nicht, wird darauf verwiesen, dass die Methode, mit der man vorgeht, einfach verbessert werden muss, oder dass Gesellschaft oder Technik noch nicht weit genug sind.

 

Auch wenn die Utopien der Moderne inzwischen nicht mehr unmittelbar aktuell sind, existiert diese Form des Optimismus doch noch weiter, meist in Ansätzen, die sich auf die Technik als Lösung urbanistischer und architektonischer Probleme stützen. Als Beispiel hierfür kann die Position von Patrick Schumacher herbeigezogen werden,[8] der den Parametrismus als integrative Lösung aller architektonischen und städtebaulichen Probleme postuliert: „Der Parametrismus ist der große neue Stil, der auf die Moderne folgt. Postmoderne und Dekonstruktivismus waren Übergangsperioden, die diese neue Hochphase von Forschung und Innovation eingeleitet haben.“[9] Schumacher stellt sich zwar nicht in die formale, durchaus aber in die gedankliche Tradition von Modernisten wie Le Corbusier und nimmt damit eine erstaunliche Haltung ein, wenn man bedenkt, dass die aus dieser Tradition hervorgegangenen einseitigen Ansätze über kurz oder lang immer starke Defizite offenbart haben. Hier scheint das avantgardistische Selbstverständnis gegenüber der allzu einseitigen Verwendung der Utopie blind zu machen.

 

Aus einem Gemisch aus Pessimismus und utopischem Denken scheinen sich gewisse Ansätze zu speisen, die eine dezidiert konservative Richtung einschlagen. Ein Beispiel dafür ist Leon Krier, der dafür plädiert, Architekturpositionen auf ihre universelle Anwendbarkeit zu testen: „What if all towns and buildings were designed and organized according to the precepts of Le Corbusier, Palladio, Fuller, Eisenman, Sitte, Koolhaas, Unwin, the „law of the Indies,“ the Jeffersonian grid, etcetera? Are the ideas that guide their designs of a tran- scendent value, or are they simply passing fads?“[10] Krier impliziert an dieser Stelle zum einen, dass ein Architekturansatz universell funktionieren muss, eine Haltung, die zweifellos utopische Ansprüche stellt. Zum anderen folgt aus seinem Anspruch, dass der überwiegende Teil der gegenwärtigen Bauproduktion in die Irre führt. Dies lässt auf eine sehr pessimistische Grundhaltung schliessen, was sich durch Kriers Verweis auf James Howard Kunstlers Buch The Long Emergency bestätigt. Darin wird die Zukunft wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch zutiefst pessimistisch eingeschätzt.[11] In diesem Licht könnte auch Hans Kollhoffs Wende vom utopischen Avantgardisten zum konservativen Gegenwartsskeptiker, von der „keiner weiss, wie es dazu kam“, neu beleuchtet werden: „Es tauchen Sockel und Dachabschluss auf. Schritt für Schritt verlieren die Entwürfe ihren unbändigen Zukunftsglauben und beginnen, sich in die Vorstellung einer tradierten Architektur einzuordnen.“[12].

 

Eine letzte Umgehensweise mit der Utopie soll hier als utopische Provinzialität bezeichnet werden. Eigentlich ist es schwierig, diese Position überhaupt zu kritisieren, weil sie alles richtig macht. Die entsprechenden Architekten gehen aufrecht und kompromisslos in den Kampf um gute Architektur. Oft tun sie dies unter grossen persönlichen Opfern und in mönchischer Hingabe zur Profession. Bearbeitet werden jedoch ausschliesslich diejenigen Bauaufgaben, die den eigenen hohen Ansprüchen gerecht werden können und in denen Kompromisssituationen von vorne herein ausgeschlossen sind. Meist gelingt dies über Wettbewerbe oder Direktaufträge von Bauherren, die dem Architekten zumindest formal fast alle Freiheiten lassen. Die Wünsche und Entscheide solcher Bauherren sind der Architektur förderlich, sie geben dem Entwurf Richtung und erleichtern, zwischen Varianten zu entscheiden. Destruktive Interventionen hingegen wie den eingangs beschriebenen unabgesprochenen Einkauf der Küche auf einer Messe machen diese Auftraggeber nicht. Der Utopie kann bedingungslos nachgegangen werden.

 

Die Provinzialität dieser Utopie liegt in der engen Auswahl des Betätigungsfelds und auch des Denkhorizonts, sie liegt in den Architekturzeitschriften, in den Dialogen und den Monographien, in denen sich alles immer um ähnliche Themen dreht. Als Quelle für fachinterne Kontroversen und für Referenzen ist dieser Diskurs zwar sinnvoll und wertvoll. Er bezieht sich aber nur auf einen winzigen Bruchteil der Gesellschaft. Für Architekturlaien ist dieser Austausch so uninteressant, wie es Gespräche unter Fachleuten für Aussenstehende in der Regel sind. Als ausschliesslicher Bezugsrahmen macht er daher nur wenig Sinn – und eigentlich kann man ihm auch das Utopische absprechen, da er sich nicht auf die gesamte Gesellschaft bezieht.

 

Die Position der meisten Architekten befindet sich in der Grauzone zwischen solchen Extremen. Die entsprechenden Überlegungen werfen aber die Frage auf, wie eine problematische Verwendung mit der Utopie umgangen werden kann. Besteht überhaupt die Möglichkeit dazu? Ist es für Architekten vielleicht sogar zwingend notwendig, dass sie entweder von der Utopie enttäuscht werden, ihr unkritisch folgen oder aber die Idee von vorne herein ablehnen?

 

 

Die konkrete Utopie

 

Der Begriff der „konkreten Utopie“ stammt von Ernst Bloch. Er wollte damit der Utopie in der marxistischen Philosophie ihren Wert zurückgeben, sie auflockern und vom Dogma befreien.[13] Auch für die Architektur liegt viel befreiendes Potential in der Vereinigung der scheinbaren Wiedersprüche, die der Begriff „konkrete Utopie“ leistet. Im konkretutopischen Schaffen wird die Zukunft Schritt für Schritt hervorgebracht. Gleichzeitig besteht aber nicht die Gefahr, sich in diesem schrittweisen Vorgehen zu verlieren, denn das Ziel ist stets vor Augen. Die konkrete Utopie beinhaltet den Aufruf zur Aktion, ohne Aktionismus zu propagieren. Und sie eröffnet die Möglichkeit, sich an übergeordneten Zielen zu orientieren, ohne dass Scheitern und Enttäuschung vorprogrammiert wären.

 

Auch Buckminster Fuller fühlte sich offenbar von diesem positiven Geist der konkreten Utopie angesprochen.[14] Seine am Wohl der ganzen Menschheit orientierte Denkweise war definitiv utopisch. In seinem Handeln bewies Fuller eine erstaunliche Konsequenz im Hinblick auf die Utopie, auch wenn bei der Lektüre seiner Schriften das Gefühl aufkommt, dass er zum ungeprüften Optimismus neigte. Die Umsetzung des konkretutopischen Gedankens war für Fuller jedenfalls mit einer kompromisslosen Haltung verbunden. Auch bei der Auswahl der Herausforderungen, denen er sich stellte, ging Fuller keine Kompromisse ein. Erfindungen wie das Dynamixon House und der Dynamixon Car waren komplette Neuerfindungen. Eine Markteinführung dieser Produkte wurde zwar versucht, stellte sich aber jeweils als sehr schwierig heraus. Eine Ausnahme sind in gewissem Sinne die von Fuller zwar nicht erfundenen, aber maßgeblich verbesserten geodäsischen Dome. Sie haben sich auf der ganzen Welt verbreitet und führen zu einem reduzierten Materialverbrauch beim Überspannen grosser Distanzen, auch wenn zumindest bezweifelt werden kann, dass sie Schritte hin zu einer besseren Welt darstellen. Fullers Kompromisslosigkeit bei den Aufgaben, denen er sich widmete, ist faszinierend und aus seiner Biographie heraus auch verständlich, hatte bei aller Bewunderung aber ein Defizit: Gemessen am Anspruch hielten sich die Veränderungen in der gebauten Umwelt in Grenzen.

 

In einer etwas anderen Auslegung als der von Fuller kann die konkrete Utopie zwar durchaus weiter einer kompromisslosen Haltung entsprechen, sich aber trotzdem in Bereiche vorwagen, in denen mit Kompromissen zu rechnen ist. Denn genau diesen scheinbaren Widerspruch lässt die Ambivalenz des Begriffes zu. Projekte müssen also nicht immer utopischen Ansprüchen genügen, sondern können als Trittsteine auf dem Weg aufgefasst werden. Angesichts der durchaus zweifelhaften Spuren der utopischen Arbeit im zeitgenössischen Architekturschaffen verspricht dieses erweiterte Verständnis der konkreten Utopie sehr produktiv zu sein. Es stützt sich auf eine Kombination von Weiterentwicklung und Erfindung. Mit einem solchen Verständnis der konkreten Utopie ist es möglich, in einer komplizierten Realität zu arbeiten, ohne sich in den Elfenbeinturm oder die Selbstbeschschränkung zu verabschieden, und Horizonte zu erschliessen, die sich vermeintlich strengere Einstellungen versagen.

 

 

Idee einer Utopie und die Frage der Gewichtung

 

Für den Architekten ruft die Utopie danach, gezeichnet und geplant zu werden. Doch weder in der Moderne noch in der Postmoderne hat die Visualisierung der Utopie gefruchtet, sondern förderte im Gegenteil den Formalismus, indem Bilder geschaffen wurden, die ohne das Verständnis der zugrunde liegenden Gedanken imitiert wurden. Gezeichnete Endzustände sind ausserdem gezwungenermassen einseitig. Denn sie müssen das ignorieren, was ein gedachter idealer Zustand am Ende sein kann – eine ambivalente Kombination verschiedener Faktoren, die nicht bildlich dargestellt werden kann, da sie viel zu komplex dazu ist. Die konkrete Utopie lässt zwar zu, dass der Komplexität der gebauten Umgebung und der Gesellschaft, die sie produziert, Rechnung getragen werden kann. Aber auch sie kann man nicht zeichnen.

 

Sucht man nach einer übergreifenden Utopie der Architektur, trifft man – mit vielen Ausnahmen und Widersprüchen – auf eine Idee, die Christian Norberg-Schulz wie folgt skizziert hat: „Im Prinzip ist es für den Architekten unmöglich, die Wünsche des Bauherrn direkt zu befriedigen. Er muß sich stets bestimmter Mittel bedienen, die sich dem Verständnis des Bauherren entziehen, und er muß außerdem die Bauaufgabe in einem funktionell-gesellschaftlichen Zusammenhang integrieren, der den Bauherrn nur teilweise angeht. Es ist daher ein Mißverständnis, die Aufgabe des Architekten in der Befriedigung des Bauherren sehen zu wollen. Statt dessen sollten wir seine Aufgabe als die Integration eines Problems in eine größere Ganzheit definieren.“[15] Konkreter, aber in die gleiche Richtung geht, was Roger Diener im Bezug auf das Prinzip der firmitas geäussert hat. Es entspricht einer Geisteshaltung, die auf mehrfache Vernetzung und mehrfache Lesbarkeit abzielt und auch für andere Zusammenhänge und Massstäbe Gültigkeit hat: „Es geht uns nicht um spezifische Bedeutungen, die durch das Material und seine Verwendung evoziert werden sollen – im Gegenteil. Die Aussenwand soll die primäre Fassung des Gebäudes unterstützen und mit dem Stadtraum in Beziehung setzen. Die Wand ist nicht Abbild, Reproduktion der Konstruktion. Wie eine Membran ermöglicht sie einen Austausch zwischen Gebäude und Stadt. Manchmal scheint das Gebäudeinnere durch die Wand zu atmen. Das hat nicht damit zu tun, ob die Wand aus Holz oder aus Beton gefertigt ist und auch nichts mit der Grösse der Öffnungen, der Fenster. Es geht vielmehr um die Beziehung des Materials zur Struktur des Gebäudes und zu jener der umgebenden Stadt. Im besten Fall wirkt die Wand in ihrem Aufbau selbstverständlich und nimmt sich so zurück, dass sie schliesslich ebenso der Stadt wie dem Haus zugehörig erscheint. Sie bleibt eingebunden in das ganze Netz der Beziehungen, das die einzelnen Elemente und ihre Anordnung im Bauwerk entwickeln.“[16]

 

Manchem mag dies langweilig erscheinen, aber das wichtigste Ziel von Architektur und Städtebau ist es, eine Integration von bzw. Kongruenz zwischen Gebäude und Gesellschaft herzustellen. Zentral für diese Aufgabe ist der Blick auf die gesamte Stadt als urbanes Gebilde, wie sie Edward Hopper in seinen Bildern aufgezeigt hat. Die praktische Arbeit zeigt, wie komplex es sich gestaltet, dieses scheinbar so bescheidene Ziel zu erfüllen. Angestrebt wird eine Einheit zwischen denen, die sich in der Stadt bewegen, und der Stadt selbst, zwischen dem Neuen und dem Alten. An den meisten Stellen verlangt die Stadt nach ihrer Weiterführung, nach leiser Architektur, und an wenigen Stellen nach der Brosche, nach dem Besonderen. Die konkrete Utopie lässt es zu, dass man diese Bauaufgaben jeweils entsprechend unterschiedlich angeht, denn sie legt nicht bei allen Aufgaben den gleichen Massstab an. Und sie lässt auch zu, dass man sich für bestimmte Aufgaben bestimmte Ziele setzt – je nachdem, was jeweils im Rahmen des Möglichen liegt, und manchmal, wenn man dies möchte, eben auch im Rahmen des Unmöglichen. Hier ist das Handwerk des Architekten in all seiner Vielschichtigkeit gefragt.

 

Ebenso interessant wird es, wenn von der konkreten Utopie aus die Aufforderung zum Diskurs neu gelesen wird. Denn Norberg-Schulz führt seine Ausführungen zur Aufgabe des Architekten folgendermassen weiter: „Das bedeutet, daß der Architekt eine umfassendere und präzisere Definition der Aufgabe und der Mittel bieten muß, als sie der Bauherr selbst geben kann. Dies wiederum ist nur auf der Basis einer integrierten Bautheorie möglich. Das nötige Vertrauen aber von Seiten der Öffentlichkeit muß durch Erziehung in der ‚Betrachtung der Baukunst‘ entwickelt werden. Beide Partner müssen sich in ihrer Einstellung auf das theoretische Verständnis der gemeinsamen Ziele zusammenfinden. Die Öffentlichkeit und die Architekten teilen sich die Verantwortung für das gegenwärtige visuelle Chaos.“ „[17] Der Diskurs inner- und ausserhalb der Disziplin muss offen bleiben, der Bautheorie sollte die „Erziehung“ entsprechen. In der gegenwärtigen Situation ist jedoch eine einseitige Tendenz feststellbar. Gefordert sind daher weniger Gespräche über jene Projekte, in denen die Erfüllung der Utopie schon angelegt ist, und mehr Dialog über das, was noch zu erobern ist, über das Imperfekte und über die gescheiterten Versuche. Hier, und nicht so sehr in Parametern, neuen Materialien, Energiekonzepten oder tektonischen Feinheiten, scheint eine aufregende und neue Zukunft der Architektur zu liegen.

 

Das Paradoxe an dieser Situation ist, dass die Architekten ihre Einflussmöglichkeiten gleichzeitig unter- und überschätzen. Denn manchmal dürfen sie zwar so arbeiten, wie sie es für richtig halten, trotz aller Reibungen steht ihnen dann aber jemand gegenüber, der sie grundsätzlich gewähren lässt. Hier kann man von einer Überschätzung dessen sprechen, was man wirklich erreicht hat, während die „Niederungen“ der Architektur oft mehr Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten für Architekten bieten, als sie denken. In diesen Gebieten des Bauens kann viel bewegt werden, und daher verlangt die konkrete Utopie vom Architekten auch, sich ihnen voll zu stellen und stellt auch den gedanklichen Rahmen dafür bereit.

 

Utopisch denkende Architekten sind also aufgefordert, sich auch auf diejenigen Bauaufgaben einzulassen, bei denen von vorne herein klar ist, dass sie in keiner Zeitschrift abgedruckt werden, und dass sie diese Aufgaben gemeinsam diskutieren. Denn in den Aufgaben, in denen die Erfüllung der Utopie noch nicht von vorne herein gegeben ist, liegt eine mindestens ebenso grosse Herausforderung für die Architektur wie in denjenigen, die eine perfekte Lösung in formaler und funktionaler Hinsicht ermöglichen und fordern. Während letztere der Weiterentwicklung und dem Ruf der Disziplin dienen, kann mit ersteren Neuland für die Architektur gewonnen werden. Und während in letzteren das utopische Element oft nur noch eingeschlafen und etwas routiniert daherkommt, kann es in den widerständigen Bauaufgaben klar und mit vollem Idealismus zur Geltung kommen.


[1] So die etymologische Wurzel des Begriffes. Siehe Friedrich Kluge und Elmar Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Gruyter 2002, S. 946

[2] Die Enzyklopädie Philosophie schreibt zur Utopie: „(…) In der Form dieser Wunschproduktion einer „besseren Welt“ erhält sich der so verstandene Utopiegedanke in den verschiedensten Variationen in der Sozialphilosophie des 16. (Th. Morus), 17. (Campanela), 18. (Morelly, Mercier, Rétif de la Bretone) und 19. Jhd. (Saint-Simon, Fourier, Cabet, Owen), bevor er philosphisch neu formuliert (…) im 20. Jh. in Ernst Blochs Denken der ‚konkreten Utopie‘ einen vorläufigen (und wahrscheinlich abschließenden) Höhepunkt erreicht.“ Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1999, S. 1675.

[3] Reinhold Martin, Utopia’s Ghost. Architecture and Postmodernism, Again. University of Minnesota Prss, Minneapolis/London, 2010. Für die im folgenden verwendeten deutschen Übersetzungen siehe: Reinhold Martin, Postmoderne Revisited – Das Gespenst der Utopie, ARCH+ 204, S. 54-61.

[4] Richard Buckminster Fuller, Konkrete Utopie. Die Krise der Menschheit und ihre Chance zu überleben, Econ Verlag, Düsseldorf und Wien 1974, S. 319

[5] Reinhold Martin, Postmoderne Revisited, S. 56

[6] Paul Collier, The Bottom Billion, Oxford University Press, Oxford 2007

[7] Peter Sloterdijk, Schäume: Plurale Sphärologie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004

[8] Patrick Schumacher: Parametrismus. Der neue International Style, ARCH+ 195, 11/2009, S. 106-113.

[9] Ebd. S. 107

[10] Leon Krier, Classicus and Vernaculus, Log Summer 2006, S. 25-30.

[11] James Howard Kunstler, The Long Emergency, Atlantic Books, London 2006

[12] David Ganzoni, Von der Grossform zur Fassade: Die Lehre Kollhoffs. Hochparterre 11/2011, S. 22.

[13] Ernst Bloch, Geist der Utopie, 2. Fassung 1925, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1985; Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. 2 Bde, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1959. Siehe auch Enzyklopädie Philosophie, S. 1681.

[14] Richard Buckminster Fuller, Konkrete Utopie. Die Krise der Menschheit und ihre Chance zu überleben, Econ Verlag, Düsseldorf und Wien 1974.

[15] Christian Norberg-Schulz, Logik der Baukunst, S. 205 (Hervorhebungen im Original)

[16] Roger Diener in: Vittorio Magnano Lampugnani (Hrsg.), firmitas utilitas venustas, Departement Architektur, Zürich 2002, S. 24

[17] Ebd.