Graue Architektur

Der Begriff der Grauen Architektur wird in der vorliegenden Arbeit zum ersten Mal definiert, und zwar als Bezeichnung für die massenhaft produzierte Alltagsarchitektur der westdeutschen Nachkriegszeit zwischen 1945 und dem Anfang der 1960er Jahre. Die primäre Zielsetzung der Arbeit besteht darin, eine architektonische Definition dieser Architektur zu erarbeiten, sie also sowohl historisch als auch strukturell zu untersuchen. Diese wird anhand eines konkreten Fallbeispiels vorgenommen, das auf verschiedenen Massstabsebenen untersucht wird: Zwei Stadtblöcke in der Innenstadt von Essen mit insgesamt 23 Gebäuden, mit dem Fokus auf das Haus in der Viehofer Strasse 28. Teil I behandelt die wichtigsten Faktoren der Entstehung der Grauen Architektur. Die Darstellung beginnt mit den baukulturellen Prägungen, deren Grundlagen in der Zeit der Industrialisierung gelegt wurden, sowie den spezifischen Wirkungen, die der Bombenkrieg auf die Wahrnehmung des urbanen Kontextes hatte. Ebenfalls dargestellt wird das Anforderungsprofil der Bauherren der Grauen Architektur unter dem starken Zeit- und Finanzdruck der Nachkriegszeit sowie dessen Entsprechung in der Ausbildung und Einstellung der von ihnen beauftragten Architekten, die stark handwerklich und pragmatisch geprägt waren. Weiterhin werden der Einfluss der meist nur rudimentären Steuerung durch die Behörden behandelt sowie die spezifische Entstehungsdynamik, deren Verlauf insbesondere das städtebauliche Erscheinungsbild der Grauen Architektur heute noch sehr stark prägt. Abgeschlossen wird der erste Teil mit einer Beschreibung der Alterungsprozesse der Grauen Architektur.

In Teil II wird die architektonische Analyse anhand der städtebaulichen Eigenschaften der Grauen Architektur, des von ihr verwendeten Vokabulars und ihrer Komposition vorgenommen, immer im Abgleich mit dem Gegenbeispiel der Avantgarde. Als prägendes architektonisches Merkmal stellt sich dabei die schichtende – im Gegensatz zur synthetisierenden – Kombination verschiedener Zitate und kontextueller Einflüsse heraus. Diese Schichtung kann eindeutig, wenn auch in immer wieder anderen Abstufungen, für alle Beispiele der Grauen Architektur festgestellt werden.

Auf der Grundlage der historischen und strukturellen Analyse der Grauen Architektur wird in Teil III eine vergleichende Situierung der Grauen Architektur vorgenommen. Da es sich bei ihr weder um einen Typus noch um einen Stil handelt, wird sie in systematischer Hinsicht als der Kategorie des Modus (einer bestimmten Art und Weise, Architektur zu machen) zugehörig festgelegt. Dies macht die Graue Architektur auch als Teil einer Ausdifferenzierung architektonischer Möglichkeiten mit der Entstehung der Moderne lesbar. Aufgrund der Tatsache, dass sie die meisten konkreten Zielsetzungen der Moderne erfüllte, sowie aufgrund der verwendeten architektonischen Mittel kann sie daher schlussendlich auch als integraler Teil der Moderne verstanden werden. Diese Zugehörigkeit wird in einem abschliessenden Kapitel ausführlicher ausgeführt, indem der Vergleich der Grauen Architektur mit ihren Vorgängern, Vorbildern und Nachfolgern gezogen wird.

Dissertation von Benedikt Boucsein an der ETH Zürich. Examinator Prof. Dr. Andreas Tönnesmann, Co-Examinator Miroslav Sik.